Immer wieder ist die Rede von psychisch erkrankten Menschen. Auch in der Therapie wird nicht selten der erkrankte Mensch isoliert und allein versorgt. Doch gibt es eine Gruppe, die mit „in Leidenschaft“ gezogen wird: Die Angehörigen. Um sie soll es in diesem Artikel gehen.
Inhalt:
Wer ist Angehörige*r?
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ – Geht das?
Was, wenn ich Angehörige und Betroffene in einer Person bin?
Wo finde ich Unterstützung?
Wer ist Angehörige*r?
Im Allgemeinen bezeichnet das Wort Angehörige die direkte Familie, zu der jemand gehört. Mit der EX-IN-Bewegung hat sich im psychiatrischen Bereich eine etwas weiter gefasste Ansicht etabliert, nach der auch Freunde, Arbeitskolleginnen und Personen aus dem alltäglichen Umfeld zu den Angehörigen zu zählen sind, wenn wir mit ihnen öfter und auch intensiver zu tun haben. Dazu können auch Therapeutinnen und Ärzt*innen zählen.
Angehörige stehen unter einem ernormen, teilweise doppelten Druck. Sie jonglieren mit mehreren Bällen und eigene Bedürfnisse werden da oft hinten an gestellt. Neben ihrer eigenen Tätigkeit in einem regulären Job oder auch zuhause wollen sie sich zudem um ihren erkrankten Mitmenschen kümmern.
Der Spagat zwischen Zuwendung und eigenen Bedürfnissen und Verpflichtungen kann einen als Angehörigen zerreißen. Wohl denjenigen, die hier eine gute Resilienz haben. Manche Angehörige gehen hier nicht nur bis an ihre Grenzen der Belastbarkeit – sie gehen darüber hinaus.
Wenn ein Mensch eine psychische Erkrankung hat, dann betrifft ihn diese nicht isoliert. Sie beeinflusst die Beziehungen zu den Menschen in seinem sozialen Umfeld oft mit.
Dieses Umfeld kann für den Erkrankten eine große Stütze, aber auch eine Last sein. Die Angehörigen können bestenfalls eine große Unterstützung sein, wenn das Vertrauensverhältnis in Ordnung ist. Einige Betroffene haben von früher Kindheit wenig bis keine Unterstützung in der eigenen Familie erlebt. Viel eher gab es viel Kritik, wenig Lob und gefühlt keine Liebe. Für sie kann das Umfeld der Angehörigen schwierig zu ertragen sein.
In meiner Arbeit als Genesungsbegleiter begegnen mir immer wieder auch Menschen, die einen psychisch erkrankten Menschen in ihrer Familie haben. Neben der Möglichkeit über ihr eigenes Erleben der Erkrankung zu berichten, nutzen sie die Gelegenheit, um mir von ihrer eigenen Ohnmacht gegenüber der Erkrankung zu berichten. Oftmals fragen sie mich, was sie tun sollen, weil sie nicht mehr weiter wissen. Leider lauert hier oftmals die Gefahr, dass die Fürsorge den erkrankten Menschen eher erdrückt und eingrenzt.
Durch ihre Nähe und Liebe zu dem erkrankten Menschen sind Angehörige stets der Gefahr ausgesetzt, ihr eigenes Leben mit Hobbys, Sport, sozialen Kontakten aufzugeben und fast ausschließlich dem erkrankten Angehörigen zur Seite stehen zu wollen. Von außen betrachtet ist das sicherlich eine schöne Geste. Und aus der Nähe heraus sicherlich nachvollziehbar. Nicht selten jedoch ist es so, dass dann die Angehörigen selbst eine psychische Erkrankung entwickeln. Daher ist ein wichtiger Tipp an Angehörige:
„Vergessen Sie ihr eigenes Leben nicht. Tun Sie sich selbst etwas Gutes.“
Das Beste, das Angehörige für Ihre erkrankte verwandte Person tun können, ist es, ihr zu signalisieren, dass sie jederzeit für sie da sind. Es gilt dabei dem erkrankten Menschen nichts abzunehmen, sondern Hilfe anzubieten. Zum Beispiel: „Wenn du zum Arzt möchtest, dann begleite ich Dich gerne, wenn Du da nicht alleine hingehen möchtest.“
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ – Geht das?
Hier wird der Zwiepalt zwischen Liebe und Selbstfürsorge sehr deutlich. Aus Liebe oder einfach nur aus Sympathie fühlen wir uns zu anderen Menschen hingezogen und wollen ihnen helfen, damit es ihnen besser geht. Das ist unser Naturell.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
(Markus 12,31)
Manche von uns kennen diesen Satz aus der Bibel. Wenn man sich diesen Satz einmal genau betrachtet, enthält er eine Weisheit, die uns helfen kann, die Auswirkungen des Zwiespalts abzumildern.
„…wie dich selbst“: Das heißt doch, dass andere Menschen ebenso viel Zuneigung bekommen sollten, wie wir sie uns selbst geben. Der Umkehrschluss gilt jedoch genauso. Oftmals neigen wir Menschen dazu, uns selbst zu vernachlässigen und uns mehr dem Gegenüber zuzuwenden. Gemäß dem biblischen Zitat soll das jedoch im Gleichgewicht sein was ich Anderen und was ich mir selbst an Zuneigung und Fürsorge zukommen lasse. Selbstfürsorge ist daher auch ein wichtiger Bestandteil von Resilienztrainings.
Was, wenn ich Angehörige und Betroffene in einer Person bin?
Es gibt nicht wenige Menschen, die in einer Doppelrolle auftreten. Sie haben in erster Linie selbst die Erfahrung einer psychischen Erkrankung gemacht. In ihrem Umfeld gibt es jedoch auch Menschen, für die sie Angehörige*r sind.
Als selbst an Depressionen erkrankter Mensch bin ich mit einer Frau verheiratet, die ihr eigenes Päckchen zu tragen hat. In den vergangenen Jahren habe ich sie daher oftmals begleitet und unterstützt, wenn es darum ging zum Arzt zu gehen oder Besorgungen zu erledigen.
Dass es belastend sein kann, sich als erkrankter Mensch um einen Angehörigen zu kümmern, ist nachvollziehbar. Da sind die eigenen Ressourcen abzuwägen, eigene Arzttermine mit denen des erkrankten Angehörigen zu koordinieren und vieles mehr. Umso wichtiger ist es hier auf die Balance zwischen Liebe und Selbstfürsorge zu achten. Was nützt es der anderen Person, wenn ich selbst zusammenbreche?
Ich habe für mich den Weg eingeschlagen, den ich oben bereits beschrieben habe. Ich signalisiere meine Bereitschaft meiner Frau zur Seite zu stehen, wenn Sie meine Hilfe benötigt. Ich achte jedoch auch auf meine eigenen Bedürfnisse und tue mir ab und an etwas Gutes. So habe ich zuletzt etwas in einem Café getrunken während meine Frau beim Arzttermin war.
Daher ist es wichtig, Selbstfürsorge zu erlernen und zu praktizieren. Wer Selbstfürsorge betreibt, ist nicht egoistisch und hat auch keinen Grund, sich dafür zu schämen.
Scham ist nicht selten ein Gefühl, das Familienmitglieder eines psychisch erkrankten Menschen begleitet. Psychische Erkrankungen erfahren immer noch Stigmatisierung und offen darüber zu sprechen ist nicht die Norm. Manchmal haben Angehörige auch eine Art „Schuldgefühl“, an der Erkrankung ursächlich/mitbeteiligt zu sein. Gerade Eltern und/oder Geschwister empfinden das häufig. Auch der Aspekt, dass zum Beispiel gesunde Geschwister vernachlässigt werden, führt zu Schuldgefühlen.
Ebenso können auch Paarbeziehungen durch z. B, unterschiedliche Verhaltensweisen/Einstellungen der Angehörigen (einer grenzt sich ab, der andere „hilft“ über die Maßen) leiden. Wie oben bereits erwähnt sind systemisch (das bedeutet im Umfeld) viele mitbetroffen.
Wo finde ich Unterstützung?
Unterstützung und Hilfe können Angehörige zum Beispiel in Selbsthilfegruppen finden. Andere Angebote sind Angehörigenbegleiter*innen, die eine EX-IN Angehörigen-Schulung durchlaufen haben. Diese ist speziell auf die Belange der Angehörigen zugeschnitten.
Einige Angehörige haben sich in einem bundesweiten Verband organisiert um sich gegenseitig zu unterstützen. Weitere Informationen, Schulungs- und Gesprächsangebote gibt es beim Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V. (BApK – https://www.bapk.de)
Bildquelle: Foto von Helena Lopes/Pexels
Bernd Andreas Czarnitzki ist Genesungsbegleiter, Resilienztrainer und Dozent.